Lieferkettenprobleme, Rohstoff-Verfügbarkeit und -Preise, Digitalisierung, ESG Anforderungen, Fachkräftemangel, geopolitische Veränderungen – die Realitäten, mit denen sich deutsche Führungskräfte täglich auseinandersetzen müssen, sind massiv und in sich schnell wandelnd. Durch den kriegerischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der uns aufgrund des schrecklichen menschlichen Leids alle äußerst betroffen macht, manifestieren sich diese Herausforderungen auf dramatische und noch nie dagewesene Art und Weise.

Auf Wunsch einiger Auto Newsletter-Empfänger haben wir daher die folgenden Zahlen und Daten zusammengestellt, um Ihnen einen aktuellen Überblick über die Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf die deutsche Automobilindustrie zu geben.

Wir haben uns dafür die Autoindustrie entlang dreier Dimensionen angeschaut: Der Blick auf die OEMs, der Blick auf die Zulieferer sowie der Blick auf die aktuelle Rohstoffsituation in Russland und in der Ukraine.

OEMs

Für die westlichen sowie asiatischen OEMs stellt sich die Frage nach dem Risiko für das Unternehmen, sollte es zur Aufgabe von Russland als Absatzmarkt kommen.

Im Jahr 2021 wurden 2,1% aller weltweit verkauften Fahrzeuge in Russland verkauft, in der Ukraine waren es 0,1%.

Den Verkaufszahlen zufolge besonders beliebt sind in Russland Fahrzeuge der Marken Renault-Nissan-Mitsubishi, Hyundai sowie der Volkswagen Gruppe.

Betrachtet man bei den OEMs den Anteil der in Russland verkauften Fahrzeuge einer Marke, so ist Renault-Nissan-Mitsubishi, bedingt durch die Beteiligung an Avtovaz / Lada, mit knapp 8% der globalen Verkäufe in Russland sowie 0,4% in der Ukraine besonders stark betroffen. Hyundai verkauft in Russland und der Ukraine zusammen knapp 6% seiner Fahrzeuge. Bei VW sind dies etwa 2,7% der weltweit verkauften Autos. Die beiden weiteren deutschen Hersteller Mercedes-Benz Cars sowie BMW setzten im Jahr 2021 in Russland und der Ukraine zusammen rund 2% ihrer Neuwagen ab.

Die meisten OEMs haben mittlerweile angekündigt, derzeit Exporte nach Russland sowie Importe von Fahrzeugen aus Russland zu stoppen. Auch Investitionen wurden ausgesetzt.

Wendet man den Blick auf die Produktion, so werden in Russland jährlich etwa 2% aller weltweit produzierten Autos gefertigt. Auch bei der Produktion ist Renault-Nissan-Mitsubishi aufgrund hoher lokaler Produktion von Fahrzeugen der Marke Avtovaz / Lada sowie weiteren Werken zur Montage von Renault Fahrzeugen besonders stark betroffen. Hyundai und VW haben lokal an mehreren Standorten in Russland Fertigungswerke, welche zumeist den lokalen Bedarf abdecken. Bei BMW und Mercedes-Benz Cars wird der größere Teil der in Russland verkauften Fahrzeuge hingegen außerhalb Russlands produziert.

Die Ukraine verfügt über keine nennenswerte Fahrzeugproduktion.

Zulieferer

Nach Angaben der ukrainischen UkraineInvest (ukraineinvest.gov.ua) haben seit 1998 zusammen 22 ausländische Automobilzulieferer etwa 600 Millionen Dollar in den Aufbau von 38 Produktionsstandorten in der Ukraine investiert. An diesen Standorten arbeiten rund 60.000 Menschen. Den mit Abstand gewichtigsten Teil der Zulieferer bilden dabei die Hersteller von Kabelbäumen sowie damit einhergehend konfektionierte Kabel, Stecker und Elektronikkomponenten. Fast jeder der globalen Top 10 Hersteller von Fahrzeugkabelbäumen hat zumindest einen Montagestandort in der Ukraine. Die Ukraine bietet ein vergleichsweise niedriges Lohnniveau bei gleichzeitiger Nähe zu Zuliefer- und Fahrzeugproduktionsstandorten in Polen, Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland. Daher haben sich die meisten Zulieferer im Westen der Ukraine niedergelassen.

Die Herstellung von Kabelbäumen erfolgt nach wie vor stark in Handarbeit, insbesondere bei individuell konfigurierten Kabelbäumen. Eine automatisierte Fertigung von Kabelbäumen ist bislang noch nicht von Vorteil, u.a. auch aufgrund mangelnder Standards. Aus diesem Grund haben Kabelbaumhersteller ein weites Netzwerk von Montagestandorten in den Niedriglohnregionen Osteuropa (ca. 150 Standorte) sowie Nordafrika (rund 50 Standorte) aufgebaut. Diese Standorte beliefern die Fahrzeughersteller in Zentraleuropa (Italien, Deutschland, Frankreich) und in UK. Bei Kabelbäumen gibt es keine großen Lagerbestände, da diese häufig kundenspezifisch gefertigt werden.

Dem Exportumsatz zufolge liegt die Ukraine mit 3,4% des globalen Umsatzes an zehnter Stelle aller Kabelbaum-exportierenden Länder.

Schaut man sich nun die Exporte der Ukraine genauer an, so wird deutlich, wie sehr Deutschland von Kabelbäumen und deren Komponenten aus ukrainischer Herstellung abhängig ist. Fast die Hälfte des Kabelbaum-Exportvolumens der Ukraine geht direkt nach Deutschland. Indirekt ist der Wert noch weit höher, zumal Kabelbäume und deren Komponenten aus der Ukraine auch zur Montage kompletter Kabelbäume z.B. nach Rumänien exportiert werden. Und diese gehen zum großen Teil ebenfalls an deutsche Fahrzeugfertigungsstandorte. Auch Automobilzulieferer sowie Komponentenwerke der OEMs etwa in Polen beziehen Kabelkomponenten aus der Ukraine und können aufgrund des Mangels weitere Autosysteme (z.B. Motoren) nicht mehr herstellen.

Hingegen werden Italien, Frankreich und England fast nicht direkt aus der Ukraine beliefert. Aus Gründen der Logistik beziehen diese ihre Kabelbäume häufig aus Nordafrika.

Die große Abhängigkeit deutscher Hersteller von Kabelbäumen aus der Ukraine zeigt sich ferner, wenn man die Rangliste der Umsätze importierter Kabelbäume nach Herkunftsland analysiert. Mit 11,6% der von Deutschland importierten Kabelbäume und deren Komponenten liegt die Ukraine an dritter Stelle. Weitere indirekte Abhängigkeiten, wie zuvor beschrieben, ergeben sich aus Kabelbaum-Bezug aus Rumänien, Tschechien, Polen oder Ungarn, für welche die Ukraine z.T. als Unterlieferant dient.

Die einzige Chance, dem drohenden Bandstillstand deutscher OEMs zu entgehen, ist eine schnelle Verlagerung der Produktion bzw. Montage. Einige Zulieferer haben bereits vor Monaten den nahenden Konflikt vorhergesehen und ihre hochvolumigen Kabelbäume und Komponenten aus der Ukraine heraus schrittweise verlagert, so etwa Aptiv laut Aussage ihres CEO Kevin Clark (in „Automotive News Europe“, vom 25. Februar 2022). Dabei gestaltet sich die Verfügbarkeit und das Einlernen von Personal, die Verlagerung der Montageboards sowie des Testequipments als die größte Herausforderung.

Rohstoffe

Neon

Die Ukraine ist der weltweit größte Exporteur des Edelgases Neon. Der Aufstieg der Ukraine zur weltweiten Nummer 1 ist historisch bedingt der russischen Stahlproduktion zu verdanken. Diese etablierte einen Prozess, ein geeignetes Gasgemisch zur Herstellung reinen Neons als Nebenprodukt aus der Stahlherstellung aufzufangen und zur Weiterverarbeitung an die Ukraine zu liefern. Zentren waren dabei die ukrainischen Hafenstädte Odessa (Cryoin, Iceblic) und Mariupol (Ingas).

Neon wird u.a. in der Beleuchtungstechnik, vor allem aber - mit etwa 50% des weltweiten Verbrauchs - für den Betrieb von Helium-Neon Lasern eingesetzt. Hochreines Neon macht 96% des Gases in He-Ne Lasern aus, welche in der Lithographie weltweit zur Herstellung von Halbleitern verwendet werden.

Die Hersteller von Halbleitern haben aus dem Ukraine-Konflikt von 2014 bereits gelernt und ihre Abhängigkeit von dem zum Großteil aus der Ukraine gelieferten Neon reduziert:

  • Prozessverbesserung und somit geringerer Neonverbrauch in der Produktion von Halbleitern
  • Lieferantenwechsel und somit Lieferung von Neon aus nicht ukrainischer Produktion z.B. südkoreanischer Chiphersteller SK Hynix “Südkorea bezieht weniger als 5% seines Neons aus der Ukraine“ (laut „Wired UK“ vom 28. Februar 2022)
  • Aufbau eines Sicherheitsbestandes mit Reichweiten bis zu 6 Monaten

Noch zeigen sich die Chiphersteller in ihrer Kommunikation zuversichtlich. Sollte der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hingegen länger andauern, kann es zu signifikanten Lieferengpässen bei Neon und somit zu einer erneuten Krise bei der weltweiten Chipherstellung kommen.

Die Autoindustrie ist hier lediglich Zaungast, könnte aber einmal mehr zum Leidtragenden werden. Es gilt nun, die Lieferfähigkeit und Bestandsreichweiten der Chiphersteller eng zu überwachen. Der Aufbau einer signifikanten Neonproduktion außerhalb der Ukraine sollte daher ebenfalls geprüft werden.

Palladium

Russland ist mit 42,9% des weltweit geförderten Volumens (exkl. Recycling) der größte Hersteller Palladiums, gefolgt an zweiter Stelle von Südafrika mit 33,9% in 2020. Ferner ist Russland mit 24,6% des weltweiten Exports der größte Exporteur an Palladium.

Im Jahr 2020 waren die weltweit größten Verbraucher an Palladium mit 82% die Hersteller von Abgassystemen von Fahrzeugen.

Wie groß die derzeitigen Reichweiten sind, ob ein Lieferstopp des Palladiums aus Russland akut droht, ob Palladium aus Russland durch andere Staaten ersetzt werden kann, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.  

Platin

Russland ist mit 13,9% des weltweit geförderten Volumens (exkl. Recycling) der zweitgrößte Förderer an Platin. Südafrika fördert mit 67,5% mit großem Abstand am meisten Platin weltweit. Hinsichtlich des Platin-Exports ist Russland mit 8% des weltweiten Exports auf Platz sieben.

Die weltweit größten Platin-Verbraucher im Jahr 2020 sind mit 31,5% Industrieanwendungen, mit 31,2% die Abgassysteme von Fahrzeugen und mit 23,3% Schmuckhersteller. (Quelle: Statista)

Nickel

Russland ist mit 11,3% des weltweit geförderten Volumens (exkl. Recycling) der drittgrößte Förderer an Nickel. Indonesien fördert mit 30,7% und die Philippinen mit 13,3% jeweils mehr Nickel als Russland.

Jedoch ist Russland mit 13% des weltweiten Exports der größte Exporteur an Nickel. Traditionell hauptsächlich als Legierungselement in der Stahlproduktion eingesetzt, wird Nickel zunehmend in dem stark wachsenden Markt der Elektroautos nachgefragt, da es ein wichtiger Rohstoff für die Batterien von Elektroautos ist.

Risiken und Ausblick

Neben der Betrachtung der oben angesprochenen Fakten beschäftigen sich Unternehmen bereits heute mit den weiteren Auswirkungen des aktuellen Konflikts, zum Beispiel in Bezug auf folgende Fragestellungen:

  • Finanzierung: Auch wenn der Export oben genannter Werkstoffe noch nicht sanktioniert ist, könnte sich zumindest die Bezahlung der Rohstoffe schwierig gestalten (Sanktionen des russischen Finanzsystems, Währungskursschwankungen)
  • Rechtssicherheit: Angedrohte Enteignungen sowie lokale Verbote in Russland, kurzfristige Änderungen von Sanktionen etc. könnten zu weiteren Disruptionen im Geschäftsbetrieb führen
  • Energieverfügbarkeit & -kosten: Wird es zu Rationierung des Energieverbrauchs kommen, etwa im Fall eines Lieferstopps von Öl/Gas und dadurch Verknappung an Elektrizität? Wie geht man mit den steigenden Kosten für Energie, insbesondere Öl und Gas um? Wie wirkt sich der Konflikt auf den Energiemix aus und wie kann das eigene Unternehmen kurz-/mittelfristig allen Anforderungen gerecht werden?
  • Ändern sich durch den Konflikt Transportwege (etwa Landtransport von China nach Europa)? Welche Anpassungen in der Supply Chain ergeben sich dadurch? Eröffnen sich neue Chancen, die Supply Chain-Strategie neu zu definieren?
  • Internationale Zusammenarbeit: Welche geopolitische und somit wirtschaftliche Rolle spielen die Großmächte China und Indien in der zukünftigen Weltordnung?
  • Können Unternehmen einer Lieferverpflichtung nicht nachkommen und müssen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden? Beispielsweise weil sie ihre Produktion nicht schnell genug bzw. vollständig verlegen können oder gar in finanzielle Schieflage geraten und ihr Geschäft aufgeben müssen?

 

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