Damit die deutsche Automobilbranche nicht den Anschluss verliert, muss kurzfristig Software-Kompetenz aufgebaut werden 

In der aktuellen Ausgabe widmen wir uns der Zukunft Deutschlands als Entwicklerland sowie den Herausforderungen und nötigen Schritten zum Aufbau der erforderlichen Software-Kompetenz, um weiterhin ein Entwicklerland zu bleiben. Die wichtigsten Informationen in Kürze:

  • Mit dem Wandel weg vom Verbrenner hin zum Elektroantrieb stehen deutsche OEMs vor der Herausforderung, in kürzester Zeit Software-Kompetenz aufzubauen
  • Aktuell wird in Deutschland nur circa 10% der Software inhouse entwickelt. Um eine zentrale Steuerungssoftware zu schaffen, planen OEMs diesen Anteil bis 2025 auf 50-60% zu erhöhen
  • Hierfür werden bis 2025 mehr als 50.000 IT-Fachkräfte in der deutschen Automobilbranche benötigt, davon ein Großteil Softwareentwickler und Datenbankexperten
  • Viele der Stellen können aktuell nicht besetzt werden: 2021 fehlten in Deutschland 96.000 IT-Fachkräfte. Auch ausländische Fachkräfte oder Absolventen können diese Lücken momentan nicht füllen
  • Nichtsdestotrotz ist die Anzahl der Patente deutscher OEMs von 2005 bis 2020 gegenüber internationalen Kernwettbewerbern in Summe kontinuierlich angestiegen
  • Mit der Ausbildung von IT-Fachkräften im eigenen Unternehmen sowie Kooperationen mit Tech-Unternehmen hat die deutsche Automobilindustrie bereits begonnen Lösungen zu entwickeln, um dem IT-Fachkräftemangel entgegenzuwirken
  • Durch eine Positionierung als attraktiver Arbeitgeber im In- und Ausland und den Ausbau ihrer globalen Netzwerkkompetenz können deutsche OEMs dem Innovationsdruck effektiv begegnen

Wandel weg vom Verbrenner hin zu softwarebasierten Fahrzeugen

In der Vergangenheit zählten deutsche OEMs zur Speerspitze in Bezug auf Innovationen in der Fahrzeugentwicklung. Mit dem Wandel weg vom Verbrenner hin zum Elektroantrieb wird nun ein neues Steuerungsparadigma in der Automobilarchitektur eingeleitet: Weg von der dezentralen Steuerung der Komponenten hin zu einem zentralen, softwarebasierten Modell.

Die Entwicklung eines vernetzten Betriebssystems ist damit zur Kernaufgabe der deutschen Automobilhersteller geworden, denn die ursprüngliche Kernkompetenz des Entwicklungsstandorts Deutschland – Mechanik, Fahrdynamik und herausragender Motorenbau – ist nicht mehr das wichtigste Verkaufsargument.

Erhöhter Bedarf an Softwareentwicklern

Ein Bruch mit der Tradition, in der die Hardware zentral war, führt dazu, dass klassische Entwickler durch Softwareentwickler ersetzt werden müssen.

OEMs stehen vor der Herausforderung, in kürzester Zeit Software-Kompetenz aufzubauen. Die Entwicklungsabteilungen der OEMs verharren jedoch noch im „Software Neuland“: Aktuell wird nur circa 10% der Software inhouse entwickelt. Um eine zentrale Steuerungssoftware zu schaffen, planen OEMs diesen Anteil bis 2025 auf 50-60% zu erhöhen.

Hierfür werden bis 2025 in Summe mehr als 50.000 IT-Fachkräfte in der deutschen Automobilbranche benötigt, davon ein Großteil Softwareentwickler und Datenbankexperten (AlixPartners Schätzung). Allein Volkswagen plant mit seiner Software-Tochter CARIAD bis zur Mitte des Jahrzehnts rund 10.000 Mitarbeiter einzustellen.

Massiver IT-Fachkräftemangel

In Q3/2021 ist in der deutschen Automobilindustrie die Anzahl an Stellenausschreibungen für IT-Fachkräfte im Vergleich zum Vorquartal um 57% gestiegen – der höchste Zuwachs innerhalb aller produzierenden Industrien.

Damit steht die deutsche Automobilindustrie auf einem Allzeithoch an Stellenausschreibungen mit einer Vervierfachung im Vergleich zu Q3/2020 (versus Q3/2019 verdoppelt). Neben dem Anstieg an benötigten Softwareentwicklern, sind Datenbankexperten, die das Rückgrat fast jeglicher Art an Digitalisierung bilden, ein wesentlicher Treiber für diesen Anstieg (Quelle: Hays Fachkräfte-Index IT).

OEMs erleben einen gravierenden IT-Fachkräftemangel, denn viele der Stellen können nicht besetzt werden: 2021 fehlten in Deutschland 96.000 IT-Fachkräfte (2020: 86.000). Branchenverbände erwarten eine Verdopplung der offenen Stellen bis 2025 (Quelle: bitkom).

Erschwerend hinzu kommt, dass auch andere Industrien IT-Fachkräfte rekrutieren, die für die Automobilbranche geeignet wären. Der “War of IT-Talents” war für die deutschen Automobilhersteller noch nie intensiver.

Nicht genügend ausländische IT-Fachkräfte und Abwanderungstendenzen

Auch Fachkräfte aus dem Ausland können den erhöhten Bedarf in Deutschland nicht decken, denn aktuell wandern mehr IT-Fachkräfte aus als ein. Die deutschen Auswanderer sind in der Regel gut ausgebildet, jung und unabhängig: Die Hälfte war höchstens 32 Jahre alt. Im Vergleich zu Menschen in Management-Tätigkeiten, die etwa so häufig aus Deutschland auswandern wie sie auch wieder zurückkehren, verlassen Auswanderer aus dem IT- und naturwissenschaftlichen Sektor die Bundesrepublik dagegen häufiger langfristig. (Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, WirtschaftsWoche).

Im Vergleich zu deutschen IT-Fachkräften ist die jährliche Wachstumsrate an eingestellten ausländischen IT-Fachkräften seit 2018 mehr als dreimal so hoch. Auf absolutem Niveau ist sie allerdings relativ niedrig. Dabei kamen 2 von 5 der ausländischen IT-Fachkräfte aus der EU (Quelle: Bundesagentur für Arbeit).

Universitäten können den Bedarf aktuell nicht decken

Neben der Nachfrageexplosion kommt erschwerend hinzu, dass IT-Hochschulabsolventen in Deutschland den stark wachsenden Bedarf nicht decken können. Von 2011 bis 2019 wuchsen die Absolventenzahlen zwar moderat mit durchschnittlich 4,7% pro Jahr, von 2019 bis 2020 stagnierten sie jedoch.

Für die Automobilindustrie ist zudem entscheidend, dass Wirtschafts- und Medieninformatiker in den letzten drei Jahren rund 41% der Absolventen darstellen – ein Einstieg in Forschung und Entwicklung bei Automobilunternehmen scheint hier eher unwahrscheinlich (Grafik 1).

Das Rennen um die knappen IT-Fachkräfte ist für deutsche OEMS noch nicht verloren

Die Konkurrenz im Kampf um IT-Fachkräfte in Deutschland ist zwar groß, das Rennen um die knappen IT-Fachkräfte ist für deutsche Automobilunternehmen aber noch nicht verloren.

Die Industrie hat durch die Ausbildung von IT-Fachkräften im eigenen Unternehmen sowie Kooperationen mit Tech-Unternehmen bereits begonnen, eigene Lösungen zu entwickeln, um den Bedarf zu füllen. 2020 waren ca. 27.000 IT-Fachkräfte in der Ausbildung, was einem jährlichen Wachstum von 6% in den letzten 5 Jahren entspricht (bitkom). Hierzu zählt unter anderem CARIAD, das 2020 von Volkswagen gegründete Unternehmen, um Software-Kompetenz aufzubauen und zu bündeln. Bis 2025 sollen hier 10.000 Entwickler beschäftigt sein. Außerdem hat Volkswagen mehrere eigene Ausbildungsstätten, wie zum Beispiel die „Fakultät 73“ zur Ausbildung von Softwareentwicklern und „42 Wolfsburg“, zum gemeinsamen Ausbau von automobile Software-Anwendungen, Cloud Computing und Nachhaltigkeit in Zusammenarbeit mit Google. Auch Daimler hat eine Software-School als Kaderschmiede für Coder, bei der 3000 Entwickler beschäftigt werden sollen. Continentals dreijährige Aufbauqualifizierung zum Automotive-Software-Techniker schafft Möglichkeiten für Studienabbrecher oder Beschäftigte ohne Ausbildung und auch Bosch hat mit der Bosch Learning Company eine Trainingsplattform geschaffen, durch die bis zu 20.000 Beschäftigte KI lernen sollen.

Für OEMs lohnt sich ein frühes Engagement in der Ausbildung und die Arbeit am eigenen Branchen- und Unternehmensimage. Laut Umfrage unter 50.000 Studierenden und Absolventen der Fachrichtung IT belegen vor allem große IT-Spieler wie Google, Apple, Microsoft und Amazon sowie der US-Autobauer Tesla die vorderen Plätze der beliebtesten Arbeitgeber. In den Top 10 sind mit Daimler, BMW Group, Porsche und Audi jedoch auch vier deutsche OEMs vertreten (Grafik 2).

Patentsicht zeigt ein positives Bild

Die deutsche Automobilindustrie war schon immer ein Vorreiter bei der Fahrzeugentwicklung. Inwiefern sich die Anzahl von IT-Fachkräften in Innovationen in der automobilen Forschung und Entwicklung niederschlägt, ist schwer direkt zu messen. Ein grober Indikator ist die Entwicklung der Patente – die jedoch von Faktoren, wie der Patentstrategie, abhängt. Außerdem geben Patente auch keinen eindeutigen Aufschluss über ihren IT-Gehalt. Denkt man an die ständig wachsende Digitalisierung über die Baugruppen hinweg, ist dennoch anzunehmen, dass der ständig wachsende IT-Anteil sich auch in den Patenten niederschlägt.

Für die deutschen OEMs zeigt die Patentsicht ein positives Bild – der Anteil stieg von 2005 bis 2020 gegenüber internationalen Kernwettbewerbern in Summe kontinuierlich, auch wenn nicht gleichverteilt über alle OEMs ein Anstieg zu verzeichnen war.

Dem Innovationsdruck effektiv begegnen

Um dem Innovationsdruck effektiv begegnen zu können und nicht allein auf deutsche Fachkräfte angewiesen zu sein, haben die OEMs zwei weitere Hebel: Die Positionierung als attraktiver Arbeitgeber im In- und Ausland sowie der Ausbau der globalen Netzwerkkompetenz und Anpassung der Kultur.

Beim ersten Hebel sind OEMs unter anderem auch auf die Attraktivität von „Makro Faktoren“ angewiesen: Rahmenbedingungen für die persönliche Lebensplanung, wie hohe Lebensqualität, gute Infrastruktur und politische Stabilität tragen zur Attraktivität des Standorts Deutschland bei.

Sprachliche Barrieren gegenüber englischsprachigen Ländern, die teils mühsame Anerkennung von Abschlüssen sowie die hohen Steuern und Abgaben können wiederum belastend wirken. Außerdem wäre es hilfreich, wenn bereits in der deutschen Ingenieursausbildung der Schwerpunkt verstärkt Richtung Digitalisierung wandern würde, um später ein reibungsloses Zusammenwirken zwischen den Disziplinen zu fördern.

Um ihre Netzwerkkompetenz erfolgreich auszubauen, sind OEMs in ihrem Selbstverständnis, ihrer Kultur und Organisation gefordert: Das traditionell stark hierarchische Arbeiten, teils direktiv, das die Mitarbeitenden in der Vergangenheit zu ingenieurstechnischen Höchstleistungen angetrieben hat, passt nicht mehr zu den Anforderungen heutiger Berufseinsteiger – besonders im hart umkämpften Markt für IT-Fachkräfte. Diese wünschen sich zwar auch ein spannendes und herausforderndes Umfeld, jedoch ist die Selbstwirksamkeit und der Austausch auf Augenhöhe sowie die Balance zwischen Arbeits- und Privatleben für heutige Absolventen mindestens gleichbedeutend.

Neben der Verfügbarkeit von IT-Talenten im Inland, zählt jetzt auch, eine klare Vision für das Software-Based Car zu entwickeln sowie die Fähigkeit der OEMs, von ihrem globalen Netzwerk zu profitieren, einzelne Entwicklungsstränge herunterzubrechen, gegebenenfalls weltweit zu verteilen und diese fortlaufend zu koordinieren und zu integrieren.

Fazit

Der Kampf um IT-Fachkräfte in Deutschland ist schon lange eröffnet: Für die deutschen Automobilhersteller gilt es, sich früh in der Ausbildung zu engagieren und auch am eigenen Branchen- und Unternehmensimage zu arbeiten. OEMs muss es jetzt gelingen, sich als attraktiver Arbeitgeber im In- und Ausland zu positionieren, ihre Netzwerkkompetenz auszubauen und die Firmenkultur anzupassen. So können sie die nötigen Grundvoraussetzungen schaffen, um einzelne Softwareentwicklungsleistungen weltweit gezielt zu verteilen und diese an einer zentralen Stelle für die Fahrzeugarchitektur zu integrieren.

Gelingt der deutschen Automobilbranche dieser Wandel kurzfristig, hat sie weiterhin gute Chancen, als Entwicklungsstandort im Rennen um die besten Innovationen ganz vorne mitzufahren.

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