Europäische Verteidigungsindustrie schwankt zwischen Konkurrenz und Konsolidierung
München (25.11.2019) – Die europäische Verteidigungsindustrie ist von Gegensätzen geprägt. Die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Ländern stößt auf innereuropäische Konkurrenz, und kontinuierlich steigende Investitionen stehen neuen Technologien sowie einer Vielzahl an miteinander konkurrierenden Waffensystemen gegenüber. Konsolidierung und Kooperation im europäischen Verteidigungsmarkt sind deshalb so wichtig wie noch nie. Nur so kann die europäische Verteidigungsindustrie langfristig handlungsfähig bleiben und neben den Wettbewerbern aus den USA bestehen. Das sind die zentralen Erkenntnisse der „AlixPartners Defense Study 2019“. Die heute veröffentlichten Studienergebnisse des internationalen Beratungsunternehmens basieren auf Interviews mit Branchenexperten und öffentlich zugänglichen Daten.
Verteidigungsausgaben wachsen und nähern sich weiter dem NATO-Ziel
Der Trend steigender Verteidigungsausgaben hat sich 2018 fortgesetzt. Selbst bei wirtschaftlich schwacher Entwicklung in einzelnen Ländern bleiben mit dem Druck der USA, dem angespannten Verhältnis zu Russland und dem nach wie vor anhaltenden – und sich gerade in jüngster Vergangenheit wieder verschärfenden – Nahostkonflikt drei Faktoren bestehen, welche die weitere Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben vorantreiben.
Deutschland befindet sich neben Großbritannien (42 Mrd. Euro / 50 Mrd. US-Dollar) und Frankreich (54 Mrd. Euro / 64 Mrd. US-Dollar) aktuell unter den zehn Ländern mit den größten Verteidigungsbudgets weltweit. Mit ca. 42 Mrd. Euro (50 Mrd. US-Dollar) investierte Deutschland knapp eine Mrd. mehr als 2017. Insgesamt haben die europäischen Länder ohne Russland rund 256 Mrd. Euro (303 Mrd. US-Dollar) ausgegeben. Trotz reduzierter Investitionen in Frankreich und Italien (um je –1,4%) wuchsen die Budgets durchschnittlich um 2,6% im Vergleich zum Vorjahr. Das bedeutet für Europa eine kontinuierliche Steigerung seit 2014. Besonders die Regierungen in Zentral- und Osteuropa haben ihre Verteidigungsetats aufgrund der wahrgenommenen weiter steigenden Bedrohung durch Russland im vergangenen Jahr erhöht. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Ausgaben dort um 12,8%. Den größten Anteil daran hatte Polen mit 10 Mrd. Euro (12 Mrd. US-Dollar).
Damit haben zum ersten Mal sieben von 26 europäischen NATO-Staaten rund 2% ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aufgewendet. 2017 waren es nur drei Mitgliedsstaaten. Als Konsequenz der deutlichen Mehrausgaben gehören beispielsweise Polen, Estland und Litauen zu den Staaten, die den NATO-Zielwert 2018 erreicht haben. Der deutsche Wert bleibt im Vergleich zum Vorjahr mit 1,24% des BIP stabil. Der europäische Durchschnittswert entwickelt sich seit 2015 positiv und liegt aktuell bei 1,5%. Die Studienautoren bewerten dies für die europäische Verteidigungsindustrie als eine Entwicklung in die richtige Richtung, da Maßnahmen von großen Mitgliedsländern wie Deutschland eine nicht zu unterschätzende Symbolwirkung entfalten. Sie sind jedoch skeptisch, ob die Ausgaben, wie ursprünglich angekündigt, stetig erhöht werden. Denn die Aussagen der regierenden Politiker waren zuletzt widersprüchlich.
Gesteigerte Profitabilität bei europäischen Unternehmen – 10%-Marke fast erreicht
Die positive Marktentwicklung bedeutet für die wichtigsten europäischen Hersteller gleichzeitig eine Steigerung der Margen. In Verbindung mit einem jährlichen Anstieg der Umsätze um 1,2% seit 2014 konnte 2018 durchschnittlich eine Gewinnspanne von 9,5% erzielt werden. Trotz dieser Erhöhung bleiben europäische Hersteller nach wie vor deutlich hinter dem Vergleichswert von 11,6% bei den zehn größten US-amerikanischen Produzenten zurück. AlixPartners erwartet, dass die Lücke zu den USA auch langfristig nicht geschlossen werden kann. Denn nötige Investitionen in die Digitalisierung von Entwicklungs- und Fertigungsprozessen sowie neue Technologien wie künstliche Intelligenz reduzieren die Margen zusätzlich.
Europäische Solidarität endet beim innereuropäischen Export
Obwohl der Markt in Europa (2018: +2,6%) ebenso wie global (2018: +2,6%) in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen ist, haben europäische Hersteller der Verteidigungsindustrie nicht umfassend davon profitiert. AlixPartners prognostiziert, dass in Zukunft die innereuropäische Konkurrenz zwischen den Herstellern durch vermehrte gemeinsame Projekte zurückgehen muss, bevor eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik ihre positive Wirkung entfalten kann.
Die Entwicklung der Exporte macht den Mangel fehlender Kooperation oder auch eines mangelnden Vertrauens in die europäische Verteidigungsindustrie besonders deutlich. Die größten Rüstungsexporteure wie Deutschland, Frankreich und UK verlieren klar Marktanteile im europäischen Binnenmarkt.
Bei einem langfristigen Vergleich der Fünfjahreszeiträume 2009–2013 vs. 2014–2018 wird deutlich, dass die europäischen Importe zurückgehen. Hier spiegeln sich teilweise die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise von 2008 wider, die zu reduzierten Verteidigungsbudgets und damit auch allgemein rückläufigen Importen führte. Bemerkenswert ist jedoch, dass dabei vor allem der Binnenmarkt, also Importe aus Europa nach Europa, betroffen ist, und Importe aus nicht europäischen Staaten leicht steigen. Dies ist neben anderen Faktoren vor allem deshalb der Fall, weil Länder wie Italien, UK und Norwegen ihre Importe aus europäischen Staaten deutlich reduzieren. Betrachtet man den globalen Exportmarkt im selben Vergleichszeitraum, ist hingegen ein Wachstum von 7,8% zu verzeichnen. Dieser Anstieg geht vor allem auf das Konto der USA: Deren Exportanteil am Gesamtmarkt ist in den definierten Zeiträumen von 30% auf 36% gewachsen. Dies entspricht einer Steigerung der US-Exporte von 29%. Im Vergleich dazu ist der Anteil der europäischen Exporte am Gesamtmarkt von 31% auf 30% leicht gesunken, was immer noch einem Wachstum der europäischen Exporte von 4,2% entspricht. Auf den europäischen Binnenmarkt bezogen zeigen sich jedoch die starken negativen Auswirkungen, denn die Exporte sind um 35% zurückgegangen. Der Gesamtmarktanteil ist dabei von 7% auf 4% und der Anteil am innereuropäischen Exportmarkt von 22% auf 14% gesunken.
„Der europäische Verteidigungsmarkt wächst perspektivisch durch staatliche Mehrausgaben sowie die sich beschleunigende europäische Zusammenarbeit weiter. Die Frage, die sich uns stellt, ist: Warum reagieren europäische Akteure nicht stärker und vor allem auch schneller darauf? Der weiterhin wachsende Markt bietet Absatzchancen, die es konsequent zu nutzen gilt. Aus diesem starken Marktumfeld heraus müssen europäische Hersteller handeln. Sie müssen im globalen Wettbewerb mehr miteinander als gegeneinander spielen, d. h. sie müssen vermehrt kooperieren und sich gegenseitig ergänzen, anstatt einander Konkurrenz zu machen“, sagt Stefan Ohl, Managing Director und Defense-Experte bei AlixPartners.
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik erhöht Konsolidierungsdruck
Dass innereuropäisches Konkurrenzdenken überkommen ist, zeigen nicht zuletzt die Entwicklungen, die dem Beschluss zur „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ („Permanent Structured Cooperation“, PESCO) folgten. Nachdem der Aufbau einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik lange Zeit vor allem aus Plänen bestand, werden nun vermehrt konkrete Projekte angestoßen. Auch die Basis für die mögliche Errichtung einer gemeinsamen Verteidigungsunion bis zum Jahr 2025 wäre damit gegeben.
Die Analyse der großen europäischen Marktteilnehmer zeigt nach wie vor deutliche Redundanzen in Kernsegmenten. Laut AlixPartners sollte sich das künftige Verschlanken der Hauptwaffensysteme positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie auswirken und die Voraussetzung für fokussierte technologische Entwicklungen schaffen. Besonders zwischen den großen europäischen Rüstungsnationen ist eine verstärkte Kooperation in allen Bereichen nötig. Die größten aktuellen Hindernisse bei der zeitnahen Konsolidierung der Waffensysteme sind unklare Zuständigkeiten und langwierige Abstimmungsprozesse zwischen den europäischen Regierungen. Darüber hinaus hemmen umfangreiche Administrationen sowie die Tatsache, dass nicht auf bereits bestehenden gemeinsamen europäischen Strukturen aufgebaut werden kann, eine zügige und zielgerichtete Konsolidierung gemeinsamer europäischer Waffensysteme.
Ein entscheidender Schritt zur Konsolidierung wurde beispielsweise mit der Unterzeichnung der Absichtserklärung für zwei Programme zwischen dem deutschen und dem französischen Verteidigungsministerium vollzogen. Die beiden Länder nehmen hier eine Vorreiterrolle ein. Ziel ist es, eine paneuropäische Kooperation aufzubauen, in der mehrere europäische Länder mitwirken. Das Future Combat Air System (FCAS) unter französischer Leitung ist dabei ein wichtiger Meilenstein in der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Ziel ist die Entwicklung eines Systems mit bemannten Mehrzweckkampfflugzeugen, unbemannten Begleitflugzeugen und neuen Waffen- sowie Kommunikationssystemen. Das Main Ground Combat System (MGCS) ist ein weiteres deutsch-französisches Projekt, in dem die beteiligten Partner an einem Kampfpanzer arbeiten, der beispielsweise den Leopard 2 im Jahr 2035 ersetzen soll. Im Marine-Bereich konnten noch keine vergleichbaren Kooperationen angestoßen werden. Einzelne Hersteller beginnen jedoch auch hier mit einer ersten projektbezogenen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene.
Um paneuropäische Projekte auch langfristig zum Erfolg zu führen, haben die Studienautoren klare Empfehlungen formuliert. Oberste Priorität hat demnach ein klares Anforderungsmanagement, das mehr auf Machbarkeit sowie Exportfähigkeit und weniger auf die Erfüllung aller Spezialwünsche einzelner Länder ausgerichtet ist. Dazu müssen Kundenwünsche intelligent, pragmatisch und lösungsorientiert gesteuert werden. Ziel für die europäischen Unternehmen sollte es deshalb sein, interne Strukturen vereinfacht neu aufzusetzen, um dauerhaft export- und damit wettbewerbsfähig zu sein.
„Der Blick auf die Im- und Exporte innerhalb Europas verdeutlicht: Die europäische Solidarität in der Verteidigungsbranche ist weiter stark ausbaufähig. Dabei zeigen bestehende Joint Ventures und gemeinsame Programme, wohin sich die Zusammenarbeit entwickeln kann – und entwickeln muss, wenn man auf dem globalen Markt langfristig wettbewerbsfähig bleiben möchte. Auffallend ist, dass es deutliche Unterschiede in der Effizienz und Umsetzungsstärke der paneuropäischen Projekte gibt. Ziel muss es sein, althergebrachte Strukturen, Denkmuster und Arbeitsweisen sowie vor allem nationale Egoismen zu überwinden, um sowohl technologisch als auch wirtschaftlich den weltweiten Anschluss nicht zu verlieren“, sagt Stefan Ohl, Managing Director und Defense-Experte bei AlixPartners.
Über AlixPartners
Die global agierende Beratung AlixPartners steht für die ergebnisorientierte Unterstützung namhafter Mandanten bei zeitkritischen und komplexen Transformations- und Ertragssteigerungsprogrammen. Tiefgreifende Branchenexpertise und funktionale Kompetenz sowie die Kenntnis der Hebel erfolgreicher Restrukturierungen ermöglichen es AlixPartners, den Wandel von Groß- und mittelständischen Unternehmen zielgerichtet zu begleiten.
Vom „manager magazin“ und der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Management & Beratung (WGMB) wurde AlixPartners 2018 als bestes Beratungsunternehmen im Bereich Restrukturierung & Transformation ausgezeichnet. Mit etwa 1.600 Mitarbeitern ist AlixPartners weltweit in mehr als 25 Büros vertreten. AlixPartners-Berater arbeiten an herausfordernden Projekten, die die Zukunft von Unternehmen maßgeblich beeinflussen, oft in kritischen Situationen, bei denen viel auf dem Spiel steht – when it really matters.
Pressekontakt
LoeschHundLiepold Kommunikation GmbH
Sabina Howacker
T +49. (0) 89 – 720187 - 18; [email protected]